„Das hätten wir sein können!“

Unterwegs mit Blatt-Gold zur Gedenkstätte Hadamar

Der Westerwald ist grau und noch von Schnee bedeckt an diesem Montagmorgen. Ich begleite unsere Schreibwerkstatt Blatt-Gold auf ihrer Exkursion zur Gedenkstätte Hadamar – hier wurden während der NS-Zeit 14.500 Menschen mit Beeinträchtigung und psychischen Erkrankungen ermordet. Schon eine Weile lang beschäftigt sich die Gruppe mit dem Thema NS-Verbrechen; sie haben Stolpersteine in Frechen und Köln gesucht, sich mit der Frage beschäftigt, warum die Nazis bestimmte Menschen verfolgt haben. Wie das in Frechen war, wollten sie von mir wissen – weil ich mich in Frechen mit meinem Geschichtsverein auch um diese Frage gekümmert habe.

Jetzt sitzen wir zusammen im Auto und fahren hoch auf den Mönchsberg. 1941 haben die Nazis die Heilanstalt aus der Preußenzeit in eine Tötungsanstalt verwandelt. Im Rahmen der so genannten „Aktion T4“ – der systematischen Verfolgung und Ermordung von Menschen, die es aus Sicht der Nazis nicht wert waren zu leben, weil sie als Asoziale galten – starben hier 10.000 Menschen. Etwa 50 kamen jeden Tag mit den „Grauen Bussen“ an. Durch eine Schleuse wurden sie ins Gebäude gebracht, mussten sich ausziehen und direkt weiter in den Keller gehen. Hier wurden sie in einer als Duschraum getarnten, nur 12 Quadratmeter großen Gaskammer hingerichtet und sofort in zwei Krematorien vor Ort verbrannt. Später sehen wir auf Fotos schwarzen Rauch aus dem Schornstein steigen, der dafür auf das Dach der Anstalt gebaut wurde.

Christiane, Yvonne, Jochen und Ralf sind nervös. Sie wissen, was sie erwartet, haben sich zusammen mit Anja Schimanke, der Leiterin der Schreibwerkstatt, Fragen überlegt, die sie stellen wollen. Seit kurzem erst organisiert die Gedenkstätte Hadamar inklusive Führungen und Workshops, unsere Gruppe ist die erste, die das Angebot wahrnimmt. Beim Warm-Up sind alle noch gut gelaunt, bei den ersten Fragen werden die vier schon nachdenklich. Es geht um konkrete Themen, zum Beispiel, ob die Fenster vergittert waren. Aber auch um ganz grundsätzliche Fragen wie die, warum ausgerechnet Ärzte und Krankenschwestern, die eigentlich Menschen helfen sollen, sich solcher Verbrechen schuldig machen konnten.

Anhand eines Zeitstrahls ordnet die Referentin die Ereignisse ein: von der Machtergreifung über das „Gesetz zur Verhütung erbranken Nachwuchses“ und den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs bis hin zum Start der „Aktion T4“ im Januar 1941. Wir starten unseren Rundgang in der Busgarage. Hier kamen diejenigen, die vorher nach Aktenlage für die Tötung ausgewählt worden waren, verdeckt von den Blicken Außenstehender an. Die Garage ist heute leer, sie ist teilweise rekonstruiert, weil sie nach dem Krieg als Scheune gedient hat. Aber gerade in dieser kalten Januarluft glaube ich, die Angst derjenigen zu spüren, die hier aussteigen mussten.

In der Dauerausstellung sehen wir Fotos von Männern und Frauen, die nach Hadamar gebracht wurden. Und wir lesen in Briefen, die ihren Angehörigen geschickt wurden. Die Sprache der Tötungsmaschinerie ist kalt und technisch. Man solle es als Erleichterung auffassen, dass der Vater, die Ehefrau, das Kind gestorben sei, steht da.

Vor dem Keller haben alle etwas Angst. Denn alle wissen: das hätten wir sein können, die hier umgebracht worden sind. Trotzdem gehen alle mit runter – und bleiben auch unten, während wir uns die Gaskammer ansehen, den Arztraum mit dem Seziertausch, auf dem einigen Leichen die Gehirne zur „wissenschaftlichen“ Untersuchung oder auch die die Goldzähne entfernt wurden. Leichenfledderei. Vor den Resten des Verbrennungsofens steht eine Blume. Eine Schülergruppe hat sie dort in der vergangenen Woche niedergelegt.

Zurück im Seminarraum atmen alle erstmal durch. Sie sind bewegt, nachdenklich, aber auch ein bisschen stolz auf sich: „Es war nicht so schlimm, wie ich gedacht habe“, sagt zum Beispiel Christiane. Ralf sagt: „Es ist gut, dass ich das ausgehalten habe, und jetzt darüber berichten kann.“ Mir selbst fällt es schwer, meine Gedanken zu formulieren. Die Gaskammer: ein dunkler, enger Raum, in dem so viele Menschen, Erwachsene und Kinder, gestorben sind. Haben sie geschrien? Geweint? Die Krematorien direkt daneben. Ich hätte mir die ganze Anlage viel größer vorgestellt, vielleicht auch technisch ausgereifter. Tatsächlich ist es nur ein enger Keller. Die Verbrennungsöfen liefen 24 Stunden am Tag, wurden von insgesamt vier so genannten Desinfektoren befeuert. Es muss eine Hitze gewesen sein, ein Gestank, dazu die Angst der Opfer – eine Hölle.

Ich bin ganz froh, dass die vier Nachwuchs-Journalisten scheinbar nicht diese Gedanken haben. Vielleicht haben sie das ganze Ausmaß der Verbrechen nicht erfasst, vielleicht können sie sich besser davon distanzieren als ich. Sie beschäftigen sich jetzt schon mit Einzelschicksalen wie dem von Horst Spiegel, einem halbjüdischen Jungen, der 1944 in Hadamar im Alter von 14 Jahren gestorben ist. Die „Aktion T4“ war da schon beendet, weil die Nazis befürchtet hatten, dass ihre gezielten Tötungen zu zu großen Protesten in der Bevölkerung führen würden. Stattdessen verlegten sie sich nun darauf, die Menschen nicht sofort umzubringen, sondern sie durch überdosierte Medikamente, vorenthaltene Pflege oder Nahrungsentzug sterben zu lassen. Nur 500 Menschen lebten noch am 26. März 1945, dem Tag der Befreiung von Hadamar, viele starben noch an den Folgen ihrer Misshandlungen. Die Leichen der rund 4500 Opfer der dezentralen Euthanasie waren in Massengräbern verscharrt worden, heute ist das Gelände eine Gedenklandschaft mit einem Mahnmal: „Mensch, achte den Menschen“, steht darauf. Was aus der Asche der 10000 Opfer der „Aktion T4“ geworden ist, weiß bis heute niemand.

Zum Schluss geht es noch um die Täter: lächerliche Haftstrafen haben sie erhalten, der letzte – ein Arzt – kam 1958 wieder auf freien Fuß und lebte bis 1992. Sein Geld verdiente er in Pharmaindustrie. Das macht alle in unserer Gruppe wütend. Jochen nimmt sich deshalb bei der abschließenden Reflexion die Boxhandschuhe: er findet, die Täter hätten härter bestraft werden sollen. Christiane nimmt sich aus der Box mit Gegenständen und Karten, mit deren Hilfe die Teilnehmer*innen ihre Gefühle abbilden sollen, den „Sorgenfresser“, ein Stofftier. Sie ist still und nachdenklich, traurig auch, aber sie macht ihre Eindrücke von heute sehr mit sich aus. Yvonne hat sich für ein Grablicht entschieden, weil sie wichtig findet, dass man an die Opfer denkt. Und Ralf hat eine Superman-Figur genommen: er findet, dass alle von Blatt-Gold heute Helden waren, weil sie so mutig waren, hierhin zu kommen und sich mit dem Thema auseinanderzusetzen.

Auf der Rückfahrt essen wir Kekse, die Stimmung ist gut – soll sie auch sein, hat die Referentin uns mitgegeben. Aber ich spüre auch: der Tag hat etwas mit der Gruppe gemacht. Blatt-Gold wird auf seine Weise darüber berichten, in seiner Sprache und mit seinen Formaten wie Reels bei Facebook und Instagram. Und hoffentlich sehen die Menschen etwas von dem Mut und dem Willen, sich nicht unterkriegen zu lassen von allen die – auch heute noch – behaupten, dass es Menschen gibt, die weniger wert sind als andere.

Text: Martin Bock

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