„Ich liebe unser Kind schon jetzt sehr“

Paul und Käthe Kraemer entstammten beide großen Familien, die einen engen Zusammenhalt und Kontakt pflegten. Aus diesem Verständnis heraus sahen sie ihr Unternehmen als Familienbetrieb und wollten ihr Vermächtnis eines Tages an einen Stammhalter weitergeben. Neun Jahre nach der Hochzeit – die entbehrungs- und sorgenreiche Zeit des Krieges war vorüber, das Geschäft hatte sich in den Wirtschaftswunderjahren gut entwickelt – war es so weit: Im Januar 1953 brachte Käthe Kraemer den gemeinsamen Sohn Paul Rolf zur Welt. Da er sich zunächst normal zu entwickeln schien, gaben die Eltern voller Freude und Stolz die Geburt ihres „Goldjungen“ und Stammhalters bekannt.

Mit etwa einem halben Jahr jedoch traten mehrfach täglich unerklärliche Krampfanfälle auf. Die Ärzte vermuteten zunächst eine Spasmophilie, eine bei Säuglingen und Kleinkindern nicht unübliche Phase erhöhter Krampftätigkeit. Eine körperliche Ursache konnte jedoch sehr bald ausgeschlossen werden. Möglich war aber wegen des schweren Geburtsverlaufs ein frühkindlicher Cerebralschaden, über dessen Auswirkung zunächst noch keine Prognose möglich war.

In den folgenden Jahren wurde Rolf mehrfach mit Frischzellen behandelt und erhielt spezielle Beruhigungsmittel, um die Krampfanfälle zu unterdrücken. Ein Arzt in Bonn empfahl später, sämtliche Medikamente abzusetzen, und stellte zugleich eine negative Prognose: Möglicherweise könne Rolf zwar gehen lernen, die Förderung der geistigen Entwicklung sei jedoch wenig aussichtsreich. Selbst zur allernächsten Umgebung könne das Kind keinen psychischen Kontakt aufbauen.

Paul und Käthe Kraemer folgten dem ärztlichen Rat insofern, als dass sie keine weiteren Anläufe zur medikamentösen Behandlung ihres Sohnes unternahmen. Stattdessen zogen 1958 aus ihrem Reihenhaus im Kölner Stadtteil Lindenthal auf ein großzügiges Anwesen in Frechen-Buschbell. Auf diese Weise wollten sie ihrem Kind wenigstens eine gesunde, schöne und barrierefreie Umgebung bieten. Eine Krankenschwester war immer zur Stelle, um die pflegerische Versorgung zu gewährleisten.

Wie groß die Sehnsucht nach einem normalen Familienleben war, kommt in wenigen privaten Dokumenten aus dem Jahr 1960 zum Ausdruck. Anfang Mai unternahm Käthe Kraemer eine Erholungsreise nach Ischia; dort glaubte sie Anzeichen einer Schwangerschaft zu erkennen und schrieb voller Freude ihrem Mann: „Ich liebe unser Kind schon jetzt sehr, weil Du Dir es so sehr wünschst.“ Wie groß die Belastung durch die Behinderung ihres Sohnes war, kommt wenige Zeilen später zum Ausdruck: „Nur gesund muss es sein, denn ein zweites krankes Kind wäre des Leides zuviel.“

Paul und Käthe Kraemer bekamen kein zweites Kind. Wie sehr sie die Behinderung ihres Sohnes Rolf belastete, lässt sich indes nur erahnen – auch weil das Ehepaar sich anderen nie über seine Erfahrungen und Gefühle mitteilte. Ein äußerst seltenes Dokument ist daher ein Bericht der Berliner Zeitung „BZ“, die 1973 auf die Initiative von Paul und Käthe Kraemer zur Unterstützung behinderter Kinder aufmerksam geworden war. Über den Grund für sein Engagement bei der Lebenshilfe und der eigenen Stiftung sagte Paul Kraemer:

„Die Arbeit ermöglicht uns das Vergessen. Wir wollen und können auch heute noch den Gedanken an das Leid und den Tod unseres einzigen Kindes nicht ertragen. Die Begegnung mit den Behinderten erinnert mich immer wieder daran, daß mein Sohn auch in seinem kurzen und beschädigten Leben ein kleines Glück empfinden konnte.“

Käthe Kraemer ergänzte und offenbarte dabei, dass sie vielleicht eher als ihr Mann bereit und in der Lage war, die Behinderung des Sohnes zu akzeptieren:

„Wir haben alles getan, um unserem Rolf zu helfen. Wir hatten keinen Erfolg. Dieses Scheitern treibt meinen Mann zu ständig neuen Bemühungen.“

Tatsächlich sollte Paul Kraemer bis zu seinem Tod immer wieder neue Ideen und Pläne entwickeln, um behinderten Menschen zu helfen. Dass dahinter bei dem sonst so erfolgreichen Mann das Gefühl des Scheiterns stand, erklärt gleichermaßen die Tragik wie auch die Dynamik der Entwicklung seines lebenslangen Engagements für Menschen mit Behinderung.

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